January 11, 2011

gute Erinnerung

 
Wenn ich mich um Weihnachten herum immer wieder über gewisse Dinge ärgere, wie zum Beispiel Matts und das Meeting in Genf (siehe auch den hier verlinkten Post "4. Advent in Afrika und Genf"), dann gibt es zum Glück auch noch Menschen und Dinge, an die ich mit Freude denke. Menschen, die für mich so was wie Leuchten in der Halbfinsternis sind. Dinge die sie gesagt oder getan haben, deren Erinnerung mir das Herz wärmt. Ausser all den privaten Bekanntschaften, Freundschaften und Erlebnisse, gibt es auch all die kleinen und grossen Dinge die ich sonst mitbekommen habe. So zum Beispiel denke ich an Weihnachten inzwischen unweigerlich an Professor Christophe Chardot, des Uni-Spital in Genf. Er ist für mich unzertrennlich mit Weihnachten verbunden, weil durch ihn mein Sohn nicht sterben musste, und somit eine Art 2. Leben erhalten hat. Ein 2. Leben, in einem Alter in dem das 1. noch nicht einmal richtig begonnen hat. Und dennoch sind es so unheimlich viele, die Kinder die diese 2. Chance nicht erhalten. Jean Ziegler erinnert uns daran: Es stirbt alle 3 Sekunden ein Kind an Hunger, auf dieser unseren und Gottes Welt.

Ich weiss... Weihnachten ist schon eine ganze Weilevorbei. Was soll ich sagen? Ich stehe unter Zeitdruck... Und, was nützt es, "wenn wir uns um Weihnachten herum zu besinnen versuchen, wenn wir den Rest der Jahres sinnlos verbringen"? Da ich hier ein Beispiel habe, wie jemand sinnvoll mit seiner Aufgabe umgeht, ist es bestimmt für das ganze Jahr gut!

Da ist also dieser Professor in Genf. Zusammen mit meinem Sohn haben wir einen Termin, der eigentlich zur Vorabklärung dienen sollte, für die bevorstehende Operation — die Entfernung des Tumors. Man hatte uns gesagt, dieser Mann sei europaweit eine Koryphäe in seinem Gebiet. Und weil der Eingriff so heikel sein wird, ist es den behandelnden Ärzten lieber, wenn der Kinder-Chirurg im Welschland ihn durchführt. Ich stelle mich auf ein 5, höchstens 10 Minütiges Gespräch ein und muss dann feststellen, der Mann hat Zeit für meinen Sohn. Ich weiss nicht ob er die Zeit hat oder ob er sie sich nimmt, ich tendiere zu dieser letzten Option. Jedenfalls läuft die Besprechung nicht wie ich es erwartet hatte, und wahrscheinlich auch nicht wie er es tat. Er stellt fest, dass mein Sohn in potentiell akuter Gefahr steht und dass er unverzüglich, ohne weitere Reise und Zeitverlust ins Bett muss. Schlechte Nachrichten also. Sehr sehr schlechte Nachrichten. Der zuerst gutartig diagnostizierte Tumor entlarvt der Professor als bösartig. Und, wenn ich heute daran denke, welche Nachricht wir damals bekommen haben und auf welche Weise wir sie bekommen haben, dann kann ich nur den Hut vor diesem Mann ziehen.

Mein Sohn und er sprechen keine gemeinsame Sprache. Ein bisschen Deutsch, ein bisschen Spanisch, mit Händen und Füssen wird er ihm an diesem Tag und in den Wochen danach alles erklären. Er wird sich nicht damit begnügen, mich als Übersetzer zu haben. Selbst wenn ich Wort für Wort übersetze und er genügend Kenntnisse hat um mit zu bekommen, dass ich alles korrekt übersetzt habe, tut er das Möglichste um direkt mit meinem Sohn kommunizieren zu können. Alles was ich vom Professor erfahren habe, hat auch der 14. Jährige Patient verstanden. Und nicht nur... Gleich darauf wird noch seine Mutter dazu kommen, und das Ganze geht nochmals von Vorne los.

Ich weiss nicht wie viel Zeit Professoren im Üblichen haben, um mit ihren Patienten alles zu besprechen. Doch ich weiss wie viel Zeit sich dieser Mann genommen hat. Und ich weiss mehr oder weniger, wie viele Stunden sein Arbeitstag hat. Ich weiss, wie das Stereotyp des Chirurgen aussieht, der ein Techniker ist, ein Handwerker, kein Mensch für grosse Unterredungen mit den Patienten. Ich weiss auch, welches Gefühl wir alle dabei hatten, als der Sohn von ihm operiert werden sollte: Das Gefühl er sei in den richtigen Händen. Und wir sollten Recht behalten. Dieser Chirurg, der am Bildschirm vor meinen Augen die Diagnose von Onkologen und Pathologen korrigierte, lässt dem Patienten nichts, aber gar nichts von seinem Stress, seinen Problemen, seiner Routine, seiner Zeit-Knappheit anmerken. Man fühlt sich ernst genommen. Und das ist in der heutigen Medizin keine Selbst-Verständlichkeit mehr!

Dieser Mensch hat mir von der ersten Minute an den Eindruck gegeben, nicht nur in diesem Uni-Spital zu arbeiten, sondern auch mit dem Herzen dort zu sein. Er gab mir das Gefühl, die Ärzte die sich zuvor um meinen Sohn kümmerten, genau so "Plättli-Leger" von Beruf hätten sein können. Nichts gegen diesen Beruf. Man fragt sich aber weshalb sie unbedingt mit Menschen arbeiten mussten: Philanthropie sprüht nicht gerade aus jeder Pore. Niemand war unhöflich oder unprofessionell. Doch gefühlskalt, distanziert, um es harmlos auszudrücken. Und ich glaube, genau aus diesem Grund ist Professor Chardot auch die internationale Kapazität die er ist: Weil er mit dem Herzen ans Werk geht.

Es stellte sich einige Minuten vor der Operation heraus, dass Professor Chardot eine wichtige Formalität vergessen hatte. Also machte er schnell eine Skizze der bevorstehenden Operation, und liess die notwendige Formulare unterschreiben während der Sohn schon in der Anästhesie lag. Dieser Vorfall machte mir keinerlei Sorgen, im Gegenteil: Er machte mir diesen Typ noch sympathischer. Das Zeugs da, diese Formalität, waren nebensächlich. Was er zu tun hatte, war in seinem Kopf, in seinem Herz und in seinen Fingern, nicht auf irgendwelchem Papier. Er zeichnete also noch schnell was, schrieb was und verschwand dann für mehr als 12 Stunden in den OP-Saal, wo er sowohl den vorgesehenen Eingriff wie aber auch all die unvorhergesehenen Komplikationen zu einem guten Ende führte. Das stand nicht auf dem Formular, den die Eltern zu unterschreiben haben, um die beschränkte Haftbarkeit des Spitals zu besiegeln.

So wie er gibt es eine ganze Anzahl Menschen, die sich in den verschiedensten Bereichen einsetzen. Und doch bräuchten wir so viel mehr davon! Ich wünschte jedem Patienten, jedem Kunde eines Anwalts, jedem Menschen vor Gericht, jedem Bürger der mit Behörden zu tun hat, jedem Menschen der sich einem anderen "ausliefern", ihm vertrauen muss, ein Gegenüber der seine Aufgabe mit der selben Leidenschaft, Einstellung und Positivität angeht wie Professor Chardot. Dann könnte auch er an Weihnachten eine gute Erinnerung haben, welche ein bisschen Hoffnung in die gegenwärtige Menschheit mit tragen würde.