March 12, 2011
die restliche Zeit
Ich gehe davon aus, dass — falls uns diese Erde überhaupt noch erlauben wird, in 100 oder 200 Jahre hier zu leben und falls wir uns bis dann nicht selbst vernichtet haben — die Menschen auf unsere Zeit zurück blicken werden, und sich kopfschüttelnd über unsere Kulturen und Bräuche wundern werden, wie der Mensch noch vor "so kurzer Zeit" so derart rückständig sein konnte. Man wird sich wundern, wie man all die Probleme die immer grösser und dringlicher wurden einfach ignoriert hat, wie man sie verdrängte, wie man sich mit ganzer Kraft an die alten Strukturen und Abläufe klammerte, anstatt diese Energie für das Erschaffen neuer Modelle zu nützen.
Die Welt ist krank und wir wissen es. Die Gesellschaft ist krank und wir wissen es. Die Menschen werden krank und wir wissen es. Doch, alles was wir tun ist so tun als wäre nichts. Und, wer von der Norm abweicht, der wird für krank erklärt und still gelegt, wer nicht mehr "funktioniert" wird für krank erklärt und ausgegrenzt, alles andere wird als "normal" bezeichnet. Was ist aber noch normal? Wer da steht und sich fragt was das alles überhaupt soll, oder eher der der im Namen der Wirtschaft und des Wachstums weiter optimiert und rationalisiert? Wer von den beiden ist wirklich "normal"? Ich behaupte, für mein Verständnis, sind beide gleichermassen krank. Beide leiden an dem was heute die Welt ist, was die Menschheit daraus gemacht hat. Und beide sind so was von entfernt, irgendwie das Recht zu haben, den anderen als krank und sich selbst als gesund zu definieren.
Die Jugend-Straf-Anstalten in Deutschland sind voller junger Frauen, die allesamt Gewalt erlebt und ausgeübt haben. Dies ist ein neues Phänomen, eine neue Seite der ach so nachahmenswerten westlichen und fortschrittlichen Gesellschaft. In einem reichen und demokratischen Land wie Deutschland werden immer mehr Frauen schwer gewalttätig, und dies immer früher. Und jemand will wirklich behaupten, die Menschheit sei nicht dabei, in voller Geschwindigkeit gegen eine Wand zu fahren? In Nord-Afrika gehen Familien-Väter und junge Studenten aus dem Haus und stellen ihr nacktes Leben entgegen autoritäre Regimes. Sie sind nicht mehr bereit so weiter zu leben! Und, falls nun jemand denken sollte, dies sei einzig ein Problem von Nord-Afrika, der täuscht sich gewaltig. Dies ist ein immer mehr planetarisch werdendes Problem. Der Unterschied zu vielen anderen Ländern ist, dass in Nord-Afrika das Bild von dem was zu ändern hat schnell gefunden ist. Dort wissen die Leute was sie ändern wollen, ganz konkret wissen sie das. Sie sagen sich, dieser und dieser Typ müssen weg damit ich bereit bin, weiterhin ein Leben auf dieser Erde zu leben. In anderen Ländern ist es nicht, dass wir bald nicht auch Menschen haben werden, die bereit wären zu sterben wenn sich nicht etwas ändert: Sie wissen aber nicht genau was sich ändern soll!
Und weshalb ändert sich nichts? Weshalb ist es so schwierig, aus dem fahrenden Auto zu steigen, bevor es in die Wand fährt? Man könnte das Auto ja auch stoppen, theoretisch, oder? Man könnte es abbremsen, zumindest. Doch niemand hat den Mut, das Auto zu verlangsamen. Ja nicht! Wir könnten noch unseren Tunnel-Blick verlieren! Wir könnten noch gezwungen werden, uns um zu sehen. Wir könnten ja merken, wer alles noch in diesem Wagen mit uns mitfährt. Wir könnten ja zur Einsicht gelangen, dass wir falsch navigiert haben, dass der Pilot besoffen oder mit Kokain voll gepumpt ist, vielleicht sogar beides. Wir könnten ja merken, dass all die die am navigieren sind überhaupt nichts mit uns gemeinsam haben, dass wir sie niemals als Vorbilder in unserem Privat-Leben nehmen würden. Und doch sind es sie, die das Auto der ganzen Menschheit fahren! Wir könnten ja merken, dass wir aus reiner Trägheit das Auto einfach so weiter und weiter laufen lassen... Und uns unbedingt einreden wollen, wir werden die Kurve schon noch kriegen.
Es ist schwierig, für jeden von uns. Für jeden ist es verdammt schwierig sich einen Reim aus der ganzen Sache zu machen. Denn, wer will schon falsch liegen? Niemand will falsch liegen. Und, weil niemand weiss was es bedeutet, richtig zu liegen, geht man zuerst einmal dem Herden-Trieb nach. So viele Menschen können doch nicht alle zusammen falsch liegen, oder? Aber vielleicht tun sie es ja doch. Vielleicht ist die Herde auf dem Weg in den Abgrund, nur weiss es noch keiner. Und es gibt einen "Point of No Return". Vor diesem Punkt, könnte noch jedes Tier theoretisch ausbrechen und in aller Ruhe auf der Weide grasen. Wenn dieser Punkt aber einmal überschritten ist, wenn sich Panik breit macht, wenn die ersten Tiere vorne beginnen zu stürzen, dann stoppen nicht die Tiere hinten, sonder sie beginnen zu stossen. Wie oft hat uns die Geschichte der Menschheit diese Lektion schon erteilt? Wie oft sind wir schon in Abgründe gefallen? Und zwar in die tiefsten und dunkelsten Abgründe? Und fast immer tat man dies voller Elan, mit ganzer Überzeugung, mit der Kraft deren die "im Rechten" sind. Wie oft schon haben ganze Völker die dümmsten Dinge gemacht und damit ihren Untergang besiegelt? Heute kommt noch dazu, dass die Erde inzwischen ein Dorf ist, wie uns die Globalisierung lernte.
Es ist schwierig, für jeden von uns. Für jeden ist es verdammt schwierig sich einen Reim aus der ganzen Sache zu machen. Wer kann schon unterscheiden zwischen Utopie und Dystopie? Wer kann schon mit Sicherheit sagen, ob Pessimismus angebracht ist oder ob es, realistischerweise, um eine ganz persönliche Angelegenheit handelt, diese Einstellung zu haben? Ist unsere Gesellschaft nun fortgeschritten, demokratisch und Menschen gerecht oder ist sie unterdrückend, ausgrenzend, ausbeutend und Menschen verachtend? Ist das, was ich an der Gesellschaft kritisiere in Wahrheit nur mein ganz eigenes Problem? Wer gesund, erfolgreich und erachtet durchs Leben gehen darf hat es eigentlich noch viel schwerer, überhaupt ein Problem zu erkennen? Weshalb an einem "glücklichen" Leben etwas ändern wollen? Im Gegenteil: Jeder sollte es so machen! Einige dieser Menschen stecken zum Glück ihre Energie in die Erforschung neuer Lebensweisen, andere aber benützen sie um ja nichts ändern zu wollen. Doch etwas wird ändern müssen! Und, je später wir dies zu akzeptieren bereit sind, desto schwieriger werden die Folgen sein.
Ich bin sowohl optimistisch wie auch pessimistisch. Optimistisch, weil ich weiss welches Wunder der Mensch ist. Zu welchen Wundern er fähig ist. Wie viel Energie, Wille und Kreativität in ihm stecken. Ich weiss, dass der Mensch alle Voraussetzungen hat, um seine Probleme lösen zu können. Pessimistisch, weil ich weiss zu was der Mensch fähig ist. Zu welchen schrecklichen Taten der Einzelne und ein ganzes Volk im Stande sind. Ich weiss, wie viel Fanatismus, mangelnde Einsicht, Sturheit und Gewalt im Menschen lauern. Ich weiss, dass der Mensch das Potenzial hat, um sich zu Grunde zu richten.
Ich persönlich denke, es bleibt uns nicht mehr viel Zeit, um zu entscheiden ob wir Menschen oder Lemminge sind. Es bleibt uns nicht viel Zeit. Und ich befürchte, wir können nicht den Augenblick abwarten, in dem wir gezwungen sind, diese Entscheidung zu treffen: Es könnte nämlich schon zu spät sein. Ich liebe die Menschen und ich liebe diese Welt. Doch es schmerzt mich sehr zu sehen, was damit geschieht. Ich möchte aber nicht die Hoffnung aufgeben, es könnte uns gelingen diese unsere und Gottes Erde so zu gestalten, dass wir gerne darauf leben.